Trümmer. Kilometerweit zerstörte Häuser und Straßen. Es ist dies die schmerzhafteste Etappe auf der Reise nach Syrien, wo es immer schwieriger wird, seine Erschütterung zurückzuhalten. Welcome to Aleppo! Die Schilder, welche den Eingang in die antike Hauptstadt des Nordens anzeigen, erscheinen wie ein schlechter Witz. Die Zeichen des blutigen Kampfes, durch den es vor ein paar Wochen gelang, die rebellischen Streitkräfte zu vertreiben, stellen das ersichtlichste Wundmal in dieser großen Stadt dar. Und doch hat nicht einmal der Krieg es geschafft, den Menschen zu zerstören. Die Gesichter der Leute können endlich wieder lachen, die Autos verkehren erneut auf den Straßen. Auch mancheGeschäftstätigkeiten haben ihren Dienst wiederaufgenommen. Abends scheinen Lichter durch die Fenster und erleuchten die Häuser der Bewohner von Aleppo. Der Verkehr verstopft die Stadt wie früher; auch die Hupen lärmen wieder, wie man es von jeder arabischen Stadt kennt.
Es genügt jedoch ein Blick um die Ecke, schon sieht man Gebäude vor sich, die von Raketen und Bomben zerstört wurden; Kinder, die im Geröll spielen, welches von den Häusern übriggeblieben sind; ältere Menschen, die in den Abfällen wühlen, um etwas Essbares zu finden; müde, hungrige Soldaten, die gelangweilt die Überreste des so genannten „Paris des Mittleren Orients“ betrachten. Das Leitungswasser kommt und geht, genauso wie die Elektrizität. Betroffen vom gedämpften Schweigen tasten wir uns durch die Straßen, die von Trümmern überfüllt sind.
Nicht einmal die Toten wurden während dieses Krieges in Frieden gelassen. Der römisch-katholische Pfarrer Bruder Ibrahim Alsabagh begleitet uns zum Friedhof, wo er uns Gräber zeigt, in denen die Menschen vollständig aufgedeckt sind. „Glücklicherweise gab es keine Fälle von Leichenschändung“, sagt der Pfarrer, „aber viele Räuber sind gekommen, um dieGegenstände zu entwenden, welche die Angehörigen der Verstorbenen bei der Beerdigung in die Nähe ihrer Liebsten gelegt hatten.“
In jenem zerstörten Friedhof arbeitet Tarek, ein junger Syrer, der die Kapelle, welche bei den Bombardierungen zerstört wurde, neu bemalt. Zusammen mit ihm und dem Ingenieur Toni führen wir unseren Weg zu Fuß fort, um uns einige Häuser zu anzusehen, die von den Bomben ruiniert und jetzt dank eines Projekts, welches von der Vereinigung pro Terra Sancta unterstützt wird, wiederinstandgesetzt werden. Das ehrgeizige Ziel des Projekts ist es, 29 Familien die Möglichkeit zu geben, wieder in ihren Häusern leben zu können „und auf diese Weise auch all jene, die aus dem Land geflüchtet sind, zur Rückkehr zu bewegen“.
In der Kirchengemeinde des Heiligen Franziskus wird pausenlos gearbeitet. Die Wasserquellen sind immer zugänglich für jene, die selbst kein Wasser haben, und jede Minute brechen mehrere Busse auf, um es auch außerhalb des Gebietes von Azizieh zu verteilen. Jeden Donnerstag werden Lebensmittelpakete ausgegeben. In der Sammelunterkunft treffen wir auf Bashir, einen etwa fünfjährigen Jungen. Sein Vater wird vermisst; die Mutter arbeitet nicht. Die einzige Hoffnung zum Überleben sind für Bashir und seine Mutter die Hilfsleistungen, die sie wöchentlich von der Pfarrgemeinde bekommen. Bashir ist schüchtern, lächelt aber, als er uns sieht. So wie er warten Hunderte Menschen darauf, dass sie im Saal an die Reihe kommen. Jeder erhält einen Gutschein, um Nahrungsmitteln und die notwendige Medizin zu kaufen. Zuvor jedoch, in einem kurzen Moment der Stille, lädt Bruder Ibrahim alle zum Gebet ein, um das langersehnte Geschenk des Friedens in Syrien zu erbitten – denn das Brot ist wichtig, aber es ist nicht alles.
Im Krankenhaus St. Louis treffen wir die elfjährige Giudy und ihre Mutter. Giudy ist von zwei Granatsplittern getroffen worden, die in ihr Gehirn eingedrungen sind. Wahrscheinlich wird sie aus dem tiefen Koma, in das sie gefallen ist, nicht mehr erwachen. Sie öffnet und schließt die Augen. Die Mutter, eine Muslimin, blickt auf die Ikone der Muttergottes, die an der Wand angebracht ist. Als Bruder Ibrahim das Kreuzzeichen auf die weiße Stirn des Mädchens macht, schenkt sie ihrer Tochter ein gerührtes Lächeln.
Welcome to Aleppo, wo Hoffnung und Schmerz eine Verbindung eingehen, die schwer zu lösen ist, wo aber das Leben zurückgekehrt ist. Endlich, nach langer Zeit – zu langer Zeit.
(von terrasant.net)